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Konstruktivismus

Der Radikale Konstruktivismus (RK) ist eine Erkenntnistheorie, eine Theorie des Wissens, die sich deutlich von anderen Konstruktivismen unterscheidet. Die Kernaussage des RK besagt, dass Wahrnehmungen niemals ein Abbild der Realität liefern, sondern immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung eines Individuums sind. Deshalb ist Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenen (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich. Ausnahmslos jede Wahrnehmung ist subjektiv. Darin besteht die Radikalität des radikalen Konstruktivismus.

Ernst von Glasersfeld gilt als Begründer des radikalen Konstruktivismus. Er hat in den Arbeiten des Psychologen und Erkenntnistheoretiker Jean Piagets einen Weg gefunden, das Kernproblem der (westlichen) Erkenntnistheorie zu umgehen: „… erkennen zu wollen, was außerhalb der Erlebniswelt liegt.“ Schon Piaget habe erklärt, „daß die kognitiven Strukturen, die wir ‚Wissen‘ nennen, nicht als ‚Kopie der Wirklichkeit‘ verstanden werden dürfen, sondern vielmehr als Ergebnis der Anpassung.“ Ernst von Glasersfeld prägt dafür den Begriff Viabilität. Dieser Begriff unterscheidet zwischen „einer bildhaften Beziehung der Übereinstimmung oder Widerspiegelung“ und einer „Beziehung des Passens“. Damit ist die Illusion überwunden, dass die „empirische Bestätigung einer Hypothese oder der Erfolg einer Handlungsweise Erkenntnis einer objektiven Welt bedeuten.“

Ein weiterer zentraler Begriff ist die Rückbezüglichkeit aller Erfahrung: die rekonstruierte Wirklichkeit weckt Erwartungshaltungen, die durch selektive Wahrnehmung die Richtigkeit der rekonstruierten Wirklichkeit zu bestätigen scheinen.

Weitere Wissenschaftler, die dem Radikale Konstruktivismus zugerechnet werden, sind der Physiker Heinz von Foerster, sowie die Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Maturana und Varela haben das Konzept der Autopoiesis, Heinz v. Foerster formulierte eine kybernetische Epistemologie, d.h. eine Theorie des Wissenserwerbs auf der Grundlage der Kybernetik zweiter Ordnung entwickelt. Über das Konzept der Autopoiesis strahlte der RK auch in geistes- und sozialwissenschaftliche Bereiche aus, z.B. in den 1980er Jahren in die soziologische Systemtheorie von Niklas Luhmann.

Konstruktivismus: Geschichte

Philosophiegeschichtlich hat der Radikale Konstruktivismus Wurzeln im Skeptizismus (Philosophische Richtung, in der der Zweifel zum Prinzip des Denkens erhoben wird), aber auch in anderen Traditionen . Schon bei Demokrit (Vorsokratiker) findet sich die Erklärung: „daß wir nicht erkennen können, wie in Wirklichkeit ein jedes Ding beschaffen oder nicht beschaffen ist.

Wissenschaftliche Vorläufer sind z.B. der Biologe Ludwig von Bertalanffy, der eine Allgemeine Systemtheorie formulierte, der Anthropologe Gregory Bateson sowie letztlich auch die Physiker Heisenberg und Einstein, welche einen Paradigmenwechsel in der Physik auslösten, bevor er konsequenterweise auch in den Humanwissenschaften vollzogen wurde.

Der Radikale Konstruktivismus entstand in der Konsequenz aus den Ergebnissen der o.g. Wissenschaftler und des wissenschaftlichen Zeitgeistes in den 1970er Jahren. Von Glasersfeld verknüpfte 1974 erstmalig das Wort „radikal“ mit der genetischen Erkenntnistheorie von Jean Piaget. Sein Ziel war es, die Konsequenzen aus der genetischen Erkenntnistheorie Piagets zu ziehen. Von Glasersfeld erweiterte den Ansatz von Piaget um die Herausbildung des Ich, die Funktion der Sprache und der Kommunikation sowie um die Anwendung konstruktivistischer Grundlagen im arithmetischen Unterricht.

1978 fand in San Francisco eine Tagung zum Thema „Konstruktion von Wirklichkeiten“ statt. Veranstalter waren Von Foerster und Varela. Im Mittelpunkt stand die Überzeugung der teilnehmenden Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen wie Biologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Logik, Linguistik, Anthropologie und Psychotherapie, dass die traditionelle Erkenntnistheorie nicht länger aufrechterhalten werden konnte.

Der Radikale Konstruktivismus wurde vor allem durch die populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen von Paul Watzlawick (Anleitung zum Unglücklichsein, Wie wirklich ist die Wirklichkeit) bekannt.

Konstruktivismus

Seine größte Wirkung entfaltete der Radikale Konstruktivismus im Bereich der Wissenschaftstheorie. Hier haben die relativistischen bzw. pragmatischen Ansätze eine gewisse Nähe zum Radikale Konstruktivismus, indem sie den Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis ablehnen. Insbesondere die Theorie des Beobachters wurde häufig rezipiert: Während im Realismus der Beobachter die Welt gleichsam von einem neutralen Standpunkt aus betrachtet, sich beobachtend nicht als Teil der Welt versteht, den Einfluss des Beobachters ausschließen will, weist der Radikale Konstruktivismus darauf hin, dass dieser Standpunkt nicht eingenommen werden kann: Der Beobachter ist immer Teil der Welt und hat immer einen subjektiven Standpunkt und beeinflusst so immer auch die Beobachtung selbst.

Konstruktivismus: Theorie

Der Radikale Konstruktivismus ist einfach ausgedrückt eine „unkonventionelle Weise die Probleme des Wissens und Erkennens zu betrachten”. Der Radikale Konstruktivismus besagt, dass das gesamte Wissen nur in den Köpfen von Individuen existiert und dass ein denkendes Individuum sein Wissen nur auf der Grundlage der eigenen Erfahrung über seine Körpersinne zusammenfügen kann. Kein Individuum kann die Grenzen seiner persönlichen Erfahrung überschreiten. Die Erkenntnis eines „objektiven Wissens“, der Wahrheit, der ontologischen Realität ist daher nicht möglich. Auch wenn viele Menschen die gleiche wissenschaftliche Erkenntnis für sich erfolgreich verwenden, wird diese dadurch nicht objektiv wahr.

Jede Wahrnehmung ist das Ergebnis eines Sinnesreizes und dessen Verarbeitung im Nervensystem. Die Veränderung von Sinnesdaten in elektrische Impulse im Nervensystem macht es unmöglich, einen Rückschluß zu ziehen auf die Natur des Ding an sich, d.h. auf die ursprüngliche Beschaffenheit des auslösenden Agens. “Niemand wird je imstande sein, die Wahrnehmung eines Gegenstands mit dem postulierten Gegenstand selbst, der die Wahrnehmung verursacht haben soll, zu vergleichen”, d.h. Wahrnehmung und Erkenntnis sind konstruktive, nicht abbildende Tätigkeiten.

Erkenntnis liefert kein Bild der realen Welt, sie liefert nur eine subjektive Konstruktion, die zur Welt „passt“ (wie ein Schlüssel zum Schloss passt). Sie ist wie ein „begriffliches Werkzeug, dessen Wert sich nur nach ihrem Erfolg im Gebrauch bemisst“. Das stimmt mit Platons Höhlengleichnis und der Sichtweise von Kant überein: „die Dinge, die unsere Sinne und unsern Verstand darstellen, sind nur Erscheinungen, d.i., Gegenstände unserer Sinne und unseres Verstandes, die das Zusammentreffen der Gelegenheitsursachen und der Wirkung des Verstandes sind“. Die „Gelegenheitsursache“ ist das, was unsere Wahrnehmungsorgane aufnehmen, in Form von elektrischen Impulsen an das Gehirn weiterleiten und dort von diesem zu einem Bild von Welt (oder Weltausschnitt) interpretiert, zusammengefügt, eben “konstruiert” wird. Kant bezeichnet dies auch als die Objektqualität zweiten
Grades.

Das Gehirn ist dabei kein „Monitor“, der eingehende Signale in ein Bild verwandelt, sondern bei der Interpretation fließt die gesamte Erfahrung des Individuums in die Konstruktion ein. „Das Gedächtnis ist das wichtigste Sinnesorgan: Das meiste, was wir wahrnehmen, stammt aus dem Gedächtnis. Wir nehmen stets durch die “Brille” unseres Gedächtnisses wahr, denn das, was wir wahrnehmen, ist durch frühere Wahrnehmung entscheidend mitbestimmt.“

Konstruktivismus: Grundprinzipien

Grundprinzipien des Radikale Konstruktivismus sind – mit Bezug auf Piaget:

  • Wissen wird nicht passiv aufgenommen, weder durch die Sinnesorgane noch durch Kommunikation.
  • Wissen wird vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut.
  • Die Funktion der Kognition ist ein adaptiver Apparat, und zwar im biologischen Sinn des Wortes, und zielt auf Passung oder Viabilität.
  • Kognition dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts und nicht der ‚Erkenntnis‘ einer objektiven, ontologischen Realität.

Im Gegensatz zur Erkenntnistheorie Kants versteht sich der Radikale Konstruktivismus als eine Theorie des Wissens. Wissen ist damit „ein Werkzeug, das nach seiner Nützlichkeit beurteilt werden muss und nicht als metaphysischer Entwurf anzusehen ist.“

Konstruktivismus: Biologische Grundlagen

Piaget erklärt Wissen biologisch. Aus der systematischen Beobachtung von Kindern versteht er „Kognition als biologische Funktion und nicht als Ergebnis unpersönlicher, universaler und ahistorischer Faktoren“ Der radikale Bruch mit dem üblichen philosophischen Ansatz der Erkenntnistheorie liegt darin, dass es nicht um eine ontologische Welterklärung geht, sondern um die Erklärung der Welt, wie sie der Organismus erlebt.

Entscheidend ist die Fähigkeit des Kindes in seiner Entwicklung, sich an Gegenstände zu erinnern. Diesen Vorgang nennt v. Glasersfeld “Re-Präsentation”, das Objekt wird wiedervorgestellt. Dabei wird das Objekt nach einer vergangenen Erfahrung aus dem Gedächtnis zum Zeitpunkt der Re-Präsentation neu konstruiert.

Ein weiterer entscheidender Schritt in der Entwicklung des Kindes ist getan, wenn es einem Objekt eine eigene “Existenz” zumisst. Das Objekt gilt nunmehr also nicht als verschwunden, wenn das Kind es nicht sieht. Damit kann das Objekt sich auch bewegen, altern, wandeln, und wird trotzdem wiedererkannt. Es wird auch als Objekt in kausalen Prozessen erkannt.

Das Kind verbindet nun mit diesem Objekt allgemein Erwartungen. Werden diese Erwartungen mit nur geringen Abweichungen erfüllt, nennt der RK diesen Vorgang “Assimilation”. Die Erfahrung mit diesem Objekt wird bestätigt, verstärkt, v. Glasersfeld spricht auch von einer Verstärkung des “Wiedererkennungsmusters”.

Wird diese Erwartung nicht erfüllt, entsteht eine Störung, die der Radikale Konstruktivismus “Perturbation” nennt. Diese Perturbation führt zu einer Veränderung der vorhandenen Erkennungsmuster. Es wird ein neues Erkennungsmuster unter Einbeziehung der neuen Bedingungen erzeugt, so dass in Zukunft die Erwartungen in der Situation wieder erfüllt werden. Der Radikale Konstruktivismus nennt diesen Vorgang “Akkommodation”. Das Kind hat etwas gelernt – die Perturbation wurde beseitigt.

Durch den Vorgang der Beseitigung der Perturbation durch Akkommodation wird der Zustand des Gleichgewichts für das Individuum wieder hergestellt. Diesen Vorgang nennt der Radikale Konstruktivismus “Äquiliberation”. V. Glasersfeld sieht darin eine neuartige Lerntheorie. Nach v. Glasersfeld arbeitet Äquiliberation wie ein Regelsystem mit negativer Rückkopplung und gilt nicht nur für den begrifflichen Bereich sondern auch für den Bereich der sozialen Interaktion. Soziale Interaktionen sind eine viel reichhaltigere Quelle für Perturbationen und die darauf folgenden Akkommodationen als die auf der sensomotorischen Ebene veranlassten Störungen.

Konstruktivismus: Handlungsschemata

v. Glasersfeld schließt daraus, dass kognitive Organismen mindestens vier Merkmale besitzen müssen:

  • die Fähigkeit, und darüber hinaus die Neigung, im Strom der Erfahrung Wiederholungen festzustellen
  • die Fähigkeit zur Erinnerung, Erfahrungen wieder aufzurufen, zu re-präsentatieren, sowie
  • die Fähigkeit, Vergleiche und Urteile in bezug auf Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit vorzunehmen
  • die Eigenschaft, gewisse Erfahrungen anderen vorzuziehen und somit elementare Wertekriterien zu besitzen.

Das Individuum baut daher Handlungsschemata auf, um adäquat mit der Welt umzugehen.

Auf der sensomotorischen Ebene dienen diese Handlungsschemata dem Überleben. Auf der mentalen Ebene, der Ebene der „reflexiven Abstraktion“ der Bildung viabler Begriffe, können Handlungsschemata beliebig ausprobiert und auf ihre Viabilität getestet werden. Auf dieser Ebene kann das Individuum daher “Gedankenexperimente” durchführen. Erfahrungen können beliebig geteilt, zusammengefügt und neu gruppiert werden.

Das Individuum wird jeden Moment von Sinneseindrücken überschwemmt und wählt daher immer aktiv aus, was zentraler Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ist. Dieser Vorgang muss nicht bewusst gesteuert sein. Die Aufmerksamkeit kann aber auch auf Gedankenexperimenten ruhen, also auf der Tätigkeit des Geistes. Das Individuum ist Akteur in beiden Situationen.

Ein Konzept des ICH

So wie ein Individuum sein Bild von der Welt Stück für Stück aus seinen Erfahrungen konstruiert, so kann auch sein Bild/Wissen vom eigenen ICH auf ähnliche Weise aufgebaut werden. In der allgemeinen Erfahrung denken wir bei ICH an die individuelle Identität oder Kontinuität einer Person. Dieses ICH ist Ort alles Erlebens und gleichzeitig etwas aktiv Handelndes. Es kann sich bewegen und so Einfluss auf seine Wahrnehmung nehmen. „In bestimmten Grenzen kann es sogar entscheiden, eine Erfahrung zu machen oder nicht.“

Wenn das „grundlegende ICH“ eines Menschen ausgebildet ist, entwickelt sich in der Pubertät das soziale ICH. Wir übernehmen als Akteure spezifische Verhaltensmuster und Rollen, die zu wesentlichen und unverwechselbaren Teilen dessen werden, „was wir dann unser Ich nennen“.

Der Konstruktivismus kann nach v. Glasersfeld bisher (1996) nur viable Konzepte des ICH bieten, in denen es Ort des Erlebens über die Sinnesorgane ist. „Das Ich als wirkender Akteur der Konstruktion oder das Ich als Ort des subjektiven Bewußtseins scheint jedoch eine metaphysische Annahme zu sein und liegt daher außerhalb des Bereiches empirischer Konstruktion.“ Er stellt fest, dass ihm (1996) keine viable Erklärung des Bewusstseins bekannt ist.

Ethik

Ernst von Glasersfeld folgert: „Der Konstruktivismus kann keine Ethik produzieren“. Dennoch ergeben sich aus dem Radikalen Konstruktivismus ethische Konsequenzen, wie etwa, dass die Verantwortung für alles Tun und Denken demjenigen zugerechnet werden muss, der sie tut und denkt: dem einzelnen Individuum. Das Individuum selbst kann also durchaus ethisch handeln. Die Aussage v. Glasersfelds bezieht sich nur auf die Theorie selbst. Er betont auch, ihm sei keine Erkenntnistheorie bekannt, aus der Ethik ableitbar wäre.

Eine Voraussetzung für ethisches Handeln sieht v. Glasersfeld allerdings darin, dass Individuen auf andere Individuen angewiesen sind. Nur so kann ein Mensch schließlich bestätigtes Wissen erreichen. Es muss anerkennen, das andere Menschen wie er selbst autonome Konstrukteure sind. Würde er sie zwingen, seine Ideen zu übernehmen, zerstörte er damit automatisch die Möglichkeit eben diese Bestätigung seiner Ideen zu erhalten. Im Gegensatz zu anderen Philosophien kann also der Radikale Konstruktivismus zumindest diesen einen fundamentalen Grund dafür nennen, das Menschsein anderer Menschen anzuerkennen.

Für Heinz von Foerster ist Ethik ein Versuch zur Vereinheitlichung. Er setzt seinen ethischen Imperativ so: „Heinz, handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“

Die Anderen

Andere Menschen sind aus der Sicht des Radikale Konstruktivismus

  • a) Konstruktionen eines Individuums, über die es Erwartungsschemata bildet und
  • b) Teil der Welt „da draußen“.

Im Zusammenstoß mit der Welt da draußen (= der Realität) können die Erwartungsschemata des Individuums erfüllt oder enttäuscht werden und in diesem Fall entstehen Perturbationen. Diese nennt v. Glasersfeld: Perturbationen sozialer Art. Sie sind viel häufiger als andere Anlässe von Perturbationen. Die Konstruktion des Anderen wird vom Individuum angepasst.

Damit ist aus der Sicht des Radikale Konstruktivismus auch klargestellt, dass Wissen nur als Konstruktion des jeweiligen Individuums vorliegt, andere Individuen haben auch Wissen, z.B. von den gleichen Vorgängen, aber ihre eigenen Konstruktionen darüber, die mit den eigenen Konstruktionen bestenfalls kompatibel sind. Solches Wissen besitzt Viabilität zweiter Ordnung, (nicht konstruktivistisch spricht man von bestätigten Tatsachen von gemeinsamen Wissen). Es ist intersubjektiv.

Allgemeine konstruktivistische Grundlagen

Während Ernst von Glasersfeld den Radikalen Konstruktivismus aus seinem eigenen Erleben mit Sprache und in der Auseinandersetzung mit dem Philosophen Wittgenstein entwickelt. Er fand schließlich in den Arbeiten Piagets einen Schlüssel zu der Erkenntnistheorie, der Wissenstheorie, die er als Radikalen Konstruktivismus bezeichnete.

Andere Wissenschaftler kommen auf ganz anderen Wegen zu konstruktivistischen Theorien. Maturana ist Neurobiologe und entwickelte eine Theorie zur Existenz lebendiger Systeme als autonome dynamische Einheiten. Ab 1970 beschäftigt er sich als Neurophysiologe mit erkenntnistheoretischen Problemen über den Weg der „Biologie des Erkennens“. Zusammen mit Varela hat er maßgeblich das Konzepts der Autopoiese entwickelt. Varela ist Biologe, Philosoph und Neurowissenschaftler. Weder Varela noch Maturana möchten als Konstruktivist bezeichnet werden.

Heinz von Foerster

Radikale Konstruktivismus: Kybernetische Epistemologie

Heinz von Foerster, Professor für Biophysik und langjähriger Direktor des legendären Biological Computer Laboratory in Illinois, hat auf der Grundlage der Kybernetik eine Theorie des Wissenserwerbs formuliert, die erklärt, wie menschliches Wissen ohne Zugang zu einer objektiven Realität entstehen kann.

Heinz von Foerster macht auf das Prinzip der undifferenzierten Kodierung aufmerksam: „Die Reaktion einer Nervenzelle enkodiert nicht die physikalischen Merkmale des Agens, das ihre Reaktion verursacht. Es wird lediglich das ‚so viel‘ an einem bestimmten Punkt meines Körpers enkodiert, nicht aber das ‚was‘.“

Erkennen (als Tätigkeit des Nervensystems) wird von ihm interpretiert als Errechnen einer Realität. Mit Errechnen ist ein ständiger Prozess gemeint, der nie zu einem abschließenden Resultat gelangt. Wissen existiert somit nicht statisch, in der Form einer stabilen Wirklichkeitsrepräsentation oder in molekularer Form, sondern wird immer wieder neu errechnet; v. Foerster bezeichnet diese Form als operatives Wissen.

„Um einen Tisch zu erkennen und „Das ist ein Tisch“ zu sagen, muss ich weder im Gehirn die Buchstaben T I S C H stehen haben, noch braucht eine winzige Repräsentation eines Tisches (oder gar die „Idee“ des Tisches) irgendwo in mir zu sitzen. Ich brauche aber eine Struktur, die mir die verschiedenen Manifestationen einer Beschreibung errechnet“

Heinz von Foerster revidiert damit seine ursprüngliche Idee eines Gedächtnisses auf Molekülbasis zugunsten eines „operativen Gedächtnisses“, das sich Erinnerung immer neu errechnet.

Maturana/Varela

Maturana sieht Sprache eher in Bezug auf ihre soziale Funktion. Er überschreitet mit seinen Aussagen zur sozialen Koppelung und zur Kultur eine Grenze, die EvG klar zieht: Aus dem (radikalen) Konstruktivismus könne und dürfe man keine Werte und keine Ethik ableiten. Das könne eine Erkenntnistheorie grundsätzlich nicht leisten.

Radikale Konstruktivismus: Sprache, Kommunikation, Soziale Koppelung, Kultur

Die Annahme von Humberto Maturana und Francisco Varela, dass jedes Individuum seine subjektive Welt konstruiert, ohne Zugang zu einer objektiven Realität, bedeutet nicht, dass keine soziale Kontrolle der Konstruktionsleistungen unter den Menschen stattfindet. Die Sprache ermöglicht den Menschen Bereiche der sogenannten Konsensualität (im Sinne einer Einigung über die Beschaffenheit eines Umstandes oder einer Sache) und der über-individuellen Sinnstiftung, in denen sie existieren und die für sie Wirklichkeit sind. Diesen Bereich nennen Maturana/Varela den „Bereich sozialer Koppelung“.

Menschliche Individuen erzeugen eine zweite Realitätsdimension dadurch, dass sie Anderen mittels des Gebrauchs von Begriffen unterstellen, dass ihre eigenen Konstruktionen den der Anderen gleichen und erleben sich selbst als Teil einer Gemeinschaft, indem sie annehmen und behaupten, dass die eigenen Konstruktionen denen der Anderen zumindest weitgehend entsprechen. Sie erfinden also neben der singulären eigenen Welt eine soziale Welt der Gemeinschaft, die sich durch sprachliche Verhaltenskoordination auszeichnet und mehrdimensionale Bedeutungszusammenhänge (Politik, Religion, Brauchtum, Wissenschaft,etc.) schafft, die sie als Kultur bezeichnen können.

Die Erfahrung von Stabilität und Kontinuität der eigenen konstruierten Wirklichkeit ist über die sinnliche Wahrnehmung des Individuums hinaus abhängig von der Bestätigung dieser Wahrnehmung durch andere Beobachter. Diese Konsensualität wird über die Sprache erarbeitet; durch den Aufbau gemeinsamer Konstruktionen in der Koexistenz von menschlichen Beobachtern kommt es zum Aufbau von sozial akzeptierten Wirklichkeiten, z.B. eines gemeinsamen ethischen Systems oder „gleicher“ Ansichten über eine Angelegenheit.

Stabilität wird dadurch erreicht, dass „Menschen ständig ihre eigene Koordination von Sinneserfahrungen anderen Menschen unterschieben, wobei es aufgrund dieser Wechselseitigkeit zu einer Bestätigung und Stabilisierung der konstruierten Wirklichkeit kommt“.

Ein Kind lernt Sprache radikal-konstruktivistisch betrachtet nicht als ein System der Informationsübertragung, sondern als eine Form der Verhaltenskoordination. Es muss (durch Versuch-und-Irrtum- Strategien) lernen, die Vielzahl von sprachlichen Äußerungen der Erwachsenen mit erwünschten Reaktionsweisen seinerseits zu verbinden. So koordinieren die Worte Besteck/Demokratie unsere Handlungen im Hinblick darauf, was ein Mensch tut, wenn er mit Besteck/Demokratie umgeht. Durch das Wort „Besteck“ (und genauso durch alle anderen Wörter) wird also nicht Information übermittelt, sondern es wird im Empfänger etwas Spezifisches ausgelöst, was von seiner Struktur und damit indirekt von seiner Sozialisation her determiniert ist.

„Das neugeborene Individuum übernimmt im Laufe seiner Sozialisation weitgehend die Annahmen, Werte, Denkstrukturen und Weltanschauungen einer bereits institutionalisierten Wirklichkeit.“.

Kulturelle Wirklichkeiten sind für den Menschen aber nicht absolut zwingend, denn er hat die Möglichkeit, diese zu reflektieren (= sich ihres Konstruktionscharakters zu vergewissern) und umzudefinieren. Die determinierende Wirksamkeit der durch Sozialisation vermittelten Kulturtechniken wird gebrochen von der kognitiven Autonomie des Individuums.

Kommunikation ist nach Maturana definiert als „das gegenseitige Auslösen von koordinierten Verhaltensweisen unter den Mitgliedern einer sozialen Einheit“.

Der konstruktivistische Ansatz weist also die Vorstellung zurück, dass durch Kommunikation Informationen im traditionellen Sinn von einem Sender auf einen Empfänger übertragen werden, denn „diese Vorstellung geht von nicht strukturdeterminierten Einheiten aus, für die Interaktionen vorschreibenden (instruierenden) Charakter haben, was bedeuten würde, dass das was in einem System geschieht durch das perturbierende Agens und nicht durch die strukturelle Dynamik des Systems determiniert ist. Dabei ist doch selbst im Alltag offensichtlich, dass Kommunikation so nicht stattfindet: Jede Person sagt was sie sagt, und hört, was sie hört, gemäß ihrer eigenen Strukturdeterminiertheit; dass etwas gesagt wird, garantiert nicht, dass es auch gehört wird. (…) Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht. Und dies hat wenig zu tun mit übertragener Information.

Die zentralen Merkmale menschlicher sozialer Systeme sind: der von ihren Mitgliedern erzeugte sprachliche Bereich der Ko-Existenz sowie die Erweiterung der Eigenschaften seiner Mitglieder. Es verhält sich also auf der Ebene der sozialen Systeme biologisch betrachtet gerade umgekehrt wie auf der Ebene der lebenden Systeme: „Der Organismus schränkt die individuelle Kreativität der ihn bildenden Einheiten (= Organe) ein, da diese Einheiten für den Organismus existieren. Das menschliche soziale System erweitert die individuelle Kreativität seiner Mitglieder, da das System für die Mitglieder existiert.“. In der konstruktivistischen Anthropologie ist die Funktion der Sprache und der daraus erwachsenden sozialen Systeme die Erweiterung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Ontogenese, was einen evolutionären Vorteil bedeutet. Wenn menschliche Gemeinschaften Zwangsmechanismen zur Stabilisierung aller Verhaltensdimensionen ihrer Mitglieder heranziehen, so die umgekehrte Schlussfolgerung der Autoren, verlieren diese Systeme ihre „soziale Eigenschaft“, da sie die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder nicht erweitern, sondern einschränken.

Kultur bedeutet bei Maturana/Varela den gesamten Verbund an ontogenetisch erworbenen Verhaltensmustern, die innerhalb der kommunikativen Dynamik eines sozialen Milieus eine generationenübergreifende Stabilität aufweisen. Die Koppelung zwischen den Generationen sowie die Mischung aus Dynamik und Kontinuität innerhalb verschiedener Traditionslinien entsteht durch die ständige Selektion von viablen Verhaltensweisen, durch Nachahmung und durch die erwähnte Mehrdeutigkeit von sprachlicher Kommunikation. „Kulturelles Verhalten entsteht also nicht aus einem besonderen Mechanismus; es stellt nur einen besonderen Fall von Kommunikation dar. Das Besondere daran ist, dass es als Konsequenz eines sozialen Lebens über Generationen hinweg entsteht, wobei die Mitglieder dieses sozialen Gefüges dauernd durch neue abgelöst werden“.

Literatur

  • Ernst v. Glasersfeld: Der Radikale Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt/M, 1996; TB 1997
  • Ernst v. Glasersfeld: Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Braunschweig, Wiesbaden 1987
  • Ernst v. Glasersfeld: Über Grenzen des Begreifens, Bern 1996
  • Ernst v. Glasersfeld: Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken, Heidelberg, 1997
  • Ernst v. Glasersfeld: Wie wir uns erfinden (mit Heinz v. Foerster), Heidelberg 1999 – 9. Aufl. 2004
  • Heinz v. Foerster: Einführung in den Konstruktivismus. von Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, und Peter M. Hejl (Piper-TB – 2006)
  • Heinz v. Foerster: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. 3. Auflage, Carl Auer, Heidelberg 1999
  • Heinz v. Foerster: Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie’. Braunschweig/Wiesbaden 1985
  • Maturana, Humberto R. und Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Bern und München, 1987

Weblinks

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