Unter Übertragung als alltagspsychologisches Phänomen versteht man das Hineinlesen von Erwartungen, insbesondere Rollenerwartungen, von eigenen Wünschen, Befürchtungen und/oder Vorstellungen in das Verhalten oder die Eigenschaften einer bestimmten Person, die ursprünglich einer anderen Person (z.B. Eltern oder Partnern) gegolten haben. Die Inhalte sind oftmals rein wunschhaft und bleiben (im Sinn unerfüllter positiver Erwartungshaltungen) meist unbefriedigt, zumal der aktuelle Partner das auf die Vergangenheit gerichtete Wunscherfüllungspotenzial in der Regel nicht zur Verfügung stellen kann oder will. Übertragungs-/Gegenübertragungsvorgänge sind nicht zwangsläufig krankhaft (pathologisch). Wir alle übertragen im Alltagsleben täglich.
Beispiel: Eine Angestellte wird von ihrem Vorgesetzten immer wieder heftig und ungerecht abgewertet. Trotzdem bewundert sie ihn und versucht, ihm durch gute Leistungen und attraktives Auftreten zu gefallen. Auch in Beziehungen sucht sie immer wieder starke Partner, wobei sie hierbei viel Gewalt erfährt und sich trotzdem nicht trennt. Sie überträgt dabei jeweils Gefühle, die eigentlich ihrem gewalttätigen Vater gelten, auf ihren Chef oder Partner. Sie wünscht von diesen Bestätigung oder Zuwendung, nach der sie sich bei ihrem Vater gesehnt hat, ohne sie je zu bekommen.
Übertragung im therapeutischen Kontext
Übertragung im therapeutischen Kontext liegt vor, wenn der Klient die genannten Gefühle, Erwartungen oder Wünsche auf den Therapeuten richtet. Es handelt sich hierbei um einen Prozess, der in jeder Psychotherapie abläuft und in manchen psychotherapeutischen Schulen sogar als Voraussetzung für eine erfolgreiche Psychotherapie angesehen wird.
Beispiel: Eine depressive Patientin fühlt sich von ihrer Therapeutin gut verstanden und hegt freundschaftliche oder zärtliche Gefühle für sie. Sie überträgt diese Wünsche und meint, dass die Therapeutin ebenso denken und wünschen würde. Daher kauft sie ihr Geschenke und lädt sie zum Kaffee ein. Unbewusst sieht sie in der Therapeutin ihre erfolgreiche Schwester, die immer erfolgreicher war als sie und der sie immer nachgeeifert hat. In der Therapie werden diese Zusammenhänge behutsam von der Therapeutin zusammen mit der Patientin erarbeitet. Die Patientin lernt dabei, dass ihre Depression auch Folge von Misserfolgen ist, die sie nur dadurch erlebt hat, dass sie immer versucht hat, ihre Schwester zu kopieren.
Der Begriff der Übertragung stammt von Sigmund Freud und wurde später von zahlreichen seiner Schüler, wie z. B. Carl Gustav Jung, weiterentwickelt. Auch außerhalb der Psychoanalyse und der aus ihr hervorgegangenen Psychotherapierichtungen benutzt heute fast jede Psychotherapieschule den Begriff der Übertragung, ohne dabei immer das psychoanalytische Erklärungsmodell zu übernehmen.
Abgrenzung
- Bei der Projektion werden Eigenschaften, welche die projizierende Person bei sich selbst nicht wahrnehmen möchte, anderen Personen zugeordnet. Im Gegensatz zur Übertragung kommt es hierbei jedoch nicht zur Verfolgung dieser Wunschvorstellungen oder Erwartungen.
- Bei der Gegenübertragung ist es der Therapeut, der unbewusste Erwartungen, Wünsche oder Gefühle auf den Klienten bzw. Patienten richtet. Das Nichterkennen derartiger Prozesse durch den Therapeuten ist der Grund für das Scheitern vieler Psychotherapien.
Übertragung in der Tiefenpsychologie
In der Tiefenpsychologie bezeichnet der Begriff einen psychodynamischen Mechanismus, der verdrängte und verpönte Triebregungen aus dem Kindheitsalter und der psychosexuellen Entwicklung auf eine aktuelle, ähnliche Situation überträgt und somit der Kompensation und Auseinandersetzung dieser Triebe dient.
Übertragung in der Psychoanalyse
Im Bereich der modernen Psychoanalyse wird unter Übertragung eine Methode bezeichnet, die gezielt ein Szenario hervorruft, bei welchem der Analysand in der Person des Psychoanalytikers einen Menschen sieht, mit dem er einen Konflikt der Vergangenheit im Heute zu lösen versucht. Der Analytiker nimmt in der Wahrnehmung des Analysanden zum Beispiel (dem Analysanden zunächst unbewusst) die Rolle des Vaters ein. Der Konflikt (mit dem Vater), den der Analysand bearbeitet, wird durch das quasi Vorhandensein des Vaters bewusst und kommunizierbar und über die Auseinandersetzung mit dem Therapeuten gelöst. Dabei werden frühere Gefühle und Wahrnehmungen auf den Analytiker übertragen (beispielsweise Ausgeliefertsein) und es wird auf adäquate Weise im Heute damit umgegangen (beispielsweise Vorwurf des empfundenen Schmerzes, Wahrnehmung der eigenen Hilflosigkeit, Verstehen des Selbst, Verzeihen).
Man unterscheidet positive und negative Übertragung. Bei der positiven Übertragung werden positive Anteile früherer Beziehungen auf den Analytiker übertragen, bei der negativen Übertragung negative Anteile.
Dabei ist zu beachten, dass stets beide Pole vorhanden sind, jeweils eine Art der Übertragung im Vordergrund, der andere, unbewusste Gegenpart im Hintergrund. Dies tritt in kleinen Teilen jeweils hervor, bsp. in sarkastischen oder ironischen Äußerungen oder in Äußerungen über eine Person, die man nicht mag. Es gibt auch Situationen, in denen der Patient splittet und die negativen Übertragungen außerhalb der Therapie platziert aus Angst, den Therapeuten zu verletzen.(aus R.R.Greenson, The Technique and Practice of Psychoanalysis, 1967)
Literatur
- Sigmund Freud: “Zur Dynamik der Übertragung, Behandlungstechnische Schriften”, Fischer (Tb.), Frankfurt, 2000
- Ute Wahner, “Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse in Psychotherapien. Eine Spezialbibliographie deutschsprachiger psychologischer Literatur. Zentralstelle für Psychologische Information und Dokumentation”, 188 Seiten, Serie: Bibliographien zur Psychologie,1993, Nr. 90
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