“Warum Eckhart Tolle manchmal nicht die richtige Lektüre ist” ist vielleicht eine ein bißchen schräge Überschrift, eignet sich aber auch als Thema für Familienaufstellungen gut und ist mir aus einem Telefon-Coaching von gestern Abend noch ziemlich präsent. Eckhard Tolle fordert den totalen Moment, immer und immer wieder, als permanentes Fluidum quasi. Immer voll präsent sein, immer im Hier und Jetzt. Und ja, das Ziel ist gut – nur leider unerreichbar. Weil wir Menschen sind.
Und dann gibt es auch Situationen im Leben, in denen es stürmisch zu geht – beruflich oder privat und meistens auf beiden Gebieten. In solchen Situationen sucht der Geist immer wieder seine Ruhepausen durch Abwesenheit, in kleinen Tagträumen. Bingo: Schon ist man nicht mehr “In the Power of Now”, wie Tolle sie postuliert.
Eckhart Tolle kann den Inneren Kritiker füttern
Genau das ist meiner Klientin passiert: So toll sich das auch anhört, mit “The Power of Now”, sie schafft es derzeit aber nicht. Und prompt schaltet sich der Innere Kritiker mit seiner ätzenden Stimme ein: “Siehste, nicht mal das schaffst Du!”. Und schon beginnt ein netter Kreislauf, der nicht gut endet – Versuch – Scheitern – Beschimpfung. Alles wegen “The Power of Now”. Das sind die Momente, in denen Eckhart Tolle nicht die richtige Lektüre ist.
Und trotzdem verkaufen sich seine Bücher gut. Vor allem an intellektuell und spirituell angehauchte Menschen. Aber ist Intellektualität und Spiritualität “The Power of Now”? Oder besteht nicht eher die Gefahr, im Kopf zu bleiben (oder überhalb des Kopfes) und wegzudriften. Karin Intveen und mir ist es da lieber, wenn “es sich auf dem Boden sortiert”.
Wie zum Beispiel am Samstag bei einer Stellvertreterin, die nach einer Speedaufstellung in ihren eigenen Film kam – mit fast dafür typischer Körperhaltung: Augen geschlossen, mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt und ein Bein über das andere geschlagen. Die ideale Voraussetzung für das innere Drama.
Und auch hier hat es sich sehr schnell wieder auf dem Boden sortiert – mit offenen Augen, mit beiden Beinen auf dem Boden und die Stuhllehne im Rücken spürend. Ach ja, das Atmen nicht vergessen. Das ist dann für uns beide “The Power of Now”.
Wenn die Klientin es nicht schafft gegenwärtig zu sein, hat das doch nichts mit Tolle zu tun bzw. mit dem >stets in der Gegenwart zu sein<.
Gerade diesen inneren Kritiker kann man mit Gegenwärtigkeit, d.h. durch Beobachtung begegnen.
Weil man manchmal den Inneren Kritiker durch sein Selbst-Postulat der Gegenwärtigkeit nochmals befeuern kann, wenn man es – wie die allermeisten Menschen – nicht schafft, immer Gegenwärtig zu sein, so meine Erfahrung.